250 Komponistinnen. Folge 235: Virtuose Konzertmusik und ein Musikerinnenleben, das man verfilmen müsste
vonArno Lücker
Maddalena Laura Lombardini kam am 9. Dezember 1745 in Venedig zur Welt. 365 Tage voller musikalischer Höhepunkte, wenn man so will: In England wurde am 28. September des Jahres das Nationalhymnen-Arrangement God Save the King von Thomas Arne »uraufgeführt« (über den »wahren« Urheber der Melodie gibt es bis heute einen Streit). In London standen zwei große Uraufführungen von Werken Georg Friedrich Händels auf der Agenda: Am 5. Januar hob man das dramatische Oratorium Hercules aus der Taufe, am 27. März folgte die Uraufführung des Oratoriums Belshazzar – und auf Versailles konnten die Adeligen sich an der neuen Ballettkomödie Platée von Jean-Philippe Rameau erstmals erfreuen: allesamt Werke, die bis heute regelmäßig auf den Spielplänen stehen. Und die Musik der »auf der Schwelle zur Epoche der Klassik« geborenen Maddalena Laura Sirmen (wie sie nach der Hochzeit mit dem Geiger Lodovico Maria Gaspar Sirmen hieß)? Vergessen! Dabei hätte diese Frau eine eigene Netflix-Serie verdient. Und dies nicht nur »aus privaten Gründen«.
Maddalena Sirmen war Komponistin, Geigerin und Sängerin. Eine nicht ganz untypische Personalunion zu dieser Zeit. Und das (Multi-)Talent der Maddalena muss früh, ja: eklatant auffällig gewesen sein. Mit sieben Jahren bemühte sie sich um die Aufnahme an einem der vier großen venezianischen Musikkonservatorien – mit Erfolg. Am Ospedale San Lazzaro konnte sie sich einer umfassenden Ausbildung in allen relevanten Fächern erfreuen.
Bald kam der Kontakt zu dem gerühmten – auch musiktheoretisch äußerst beflissenen – Violinvirtuosen und »Teufelstrillersonaten«-Komponisten Giuseppe Tartini (1692–1770) zustande. Lombardini und Tartini einigten sich zunächst quasi auf Unterricht »remote«, wenn man so will: Tartini schrieb Lombardini Briefe (!) mit Ratschlägen zum Violinspiel. Möglicherweise, so Freia Hoffmann, half Tartini auch bei der Anbahnung der Hochzeit von Lombardini mit Herrn Sirmen, denn nur verheiratete Frauen durften außerhalb von Konservatorien eine musikalische Laufbahn bestreiten.
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Maddalena Sirmen und ihr frischgebackener (gleichfalls Violine spielender) Ehemann gingen nun gemeinsam auf Tournee – und waren im Rahmen der damals ganz neuen Erfindung »öffentliches Konzert« sehr erfolgreich. 1771 konnte die Komponistin, Violinistin und Sängerin gar am King’s Theatre in London mit eigenen Werken auftreten – und wurde dafür gefeiert. Ein Zeitgenosse schrieb damals (zitiert bei Hoffmann): »Da die berühmte Dame schon einige Zeit in England verweilt, wissen wir schon länger von ihren Fähigkeiten. Ihr Ton und ihr Spielstil sind sehr angenehm, und ihre Ausführung ist wahrlich von schöner Schlichtheit, ohne irgendeine jener unnötigen und extravaganten Freiheiten, zu denen sich die meisten Solospieler auf der Violine zu häufig hinreißen lassen.«
1769 hatte Sirmen eine Tochter zur Welt gebracht. In den Folgejahren trat sie in Italien erfolgreich als Sängerin auf. 1779 verließ sie eine Anstellung als Sängerin in Dresden und wechselte nach Sankt Petersburg. 1784 kehrte das Ehepaar Sirmen nach zwischenzeitlicher Trennung nach Ravenna zurück. Im Rahmen von Auftritten bei den musikgeschichtsträchtigen »Concerts spirituels« in Paris wurden ihre Fähigkeiten alsbald als nicht mehr »zeitgemäß« charakterisiert. Keine große Katastrophe, kein Grund zur Trauer: Diese Art des »Karriereendes« war häufig – und erscheint uns rückblickend schon fast als »elegant«. Moden gab es eben immer. Und manchmal wechselten diese schneller, als die Post beispielsweise Noten von den »angesagtesten« Suiten der Zeit einer Musikschaffenden ins Haus depeschieren konnte.
Sirmen blieb vorerst in Ravenna, verbrachte ihre letzten Lebensjahrzehnte aber in Venedig; mit neuem Freund und ab 1795 mit einer Adoptivtochter im Haushalt. Dort, in Venedig, starb sie am 18. Mai 1818 im Alter von 72 Jahren.
Maddalena Laura Sirmen (1745–1818)
Konzert für Violine, Oboe, zwei Hörner und Streicher No. 6 C-Dur op. 3 (1771–1773)
Maddalena Laura Sirmen komponierte vor allem Werke mit Einbeziehung der Violine, so auch das zwischen 1771 und 1773 entstandene Konzert für Violine, Oboe, zwei Hörner und Streicher No. 6 C-Dur op. 3 (von dem es die Noten frei im Netz gibt).
Sirmen wendet eine gut funktionierende Taktik zu Beginn an: Wir hören ein einfaches, leicht rhythmisiertes Motto aus Bestandteilen eines C-Dur-Akkordes. Diese Einfachheit der »Motto-Findung« ist erstens geschickt schlicht (weil die Erwartungen gleichsam irgendwie auch runterfahrend) und zweitens aufmerksamkeitserheischend: »Hier bin ich. Hör mir zu! (Und stellt vor allem eure Gespräche ein, da hinten!)« Ein Drittes kommt hinzu: Nach diesem allerersten Takt, den alle Instrumente gleichermaßen – und tonlich gleich (man sagt: »unisono«) – vollziehen, fächert Sirmen den Klang (und die Kontrapunktik!) herrlich auf. Oboen und Violinen spielen vor allem schnelle Läufe, Hörner bringen höfisch-pompöse Punktierungsfanfaren – und die Celli peppen das Geflecht mit kurzen Staccato-Schritten auf. Tolle, virtuose Konzertmusik! ¶
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Arno Lücker
... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.Mehr von Arno Lücker